Johannes Odendahl
„Lesemotivation,
diese sanfte Muse“
Literaturdidaktisches Thema mit literarischen Variationen.
Ein nicht ganz ernstgemeinter Vorschlag zur Nutzung von KI im Wissenschaftsbetrieb

Mein Beitrag zu einer Festschrift für Marion Bönnighausen, das war mir schnell klar, sollte sich auf eine auffallende Gemeinsamkeit zwischen ihr und mir beziehen: Beide haben wir, zu unterschiedlichen Zeiten, bei Jochen Vogt in Essen promoviert, und unser beider Dissertationsschriften befassten sich unter anderem mit Thomas Manns Doktor Faustus und der Musik (nicht zu vergessen, dass es uns beide von solchen Themenstellungen letztlich in die Literaturdidaktik … wenn nicht verschlagen, so doch geführt hat). Mitte der 2000er Jahre durfte ich Marion Bönnighausen als Assistentin an der Uni Essen kennenlernen, als sie meinem gerade erst im Entstehen begriffenen Promotionsvorhaben viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete – Jochen Vogt hatte mich, skeptisch in der Frage, ob mein Themenwunsch „Thomas Mann und die Musik“ überhaupt noch ein eigenständiges Projekt abwerfen konnte, zunächst zur Beratung zu ihr als Expertin auf diesem Gebiet geschickt. Nicht zuletzt dank Marion Bönnighausen, die später dann die Rolle der Zweitgutachterin übernahm, wurde also überhaupt etwas aus dem Vorhaben – wie ich ihr auch weiterhin einiges zu verdanken habe, so, wenn sie sich die Zeit nahm, mich in Fragen meiner verschlungenen Wege zum Berufsakademiker zu beraten und zu unterstützen.
Von Thomas Manns Doktor Faustus, Hans Henny Jahnns Die Niederschrift des Gustav Anias Horn und der Musik als Utopie (so der Titel ihrer Dissertationsschrift 1997) bis zu literaturdidaktischen Fragestellungen, die Marion Bönnighausens Schaffen seit langem prägen, liegt ein gewisser Weg – kein unüberwindlicher natürlich, spielen doch intermediale Zugänge zum literarischen Lernen eine bedeutende Rolle in ihrer Arbeit, aber ein Weg eben doch, eine spürbare Distanz. Um diese Distanz ein wenig zu verringern und damit sozusagen eine Brücke von Marion Bönnighausens Haupt- zurück zu ihrem Frühwerk zu schlagen, bin ich auf die Idee verfallen, einen ihrer jüngeren Texte – eigentlich nur dessen Anfang – zum Thema Lesen versuchsweise in das Idiom Thomas Manns zu übertragen bzw., wie man das in Zeiten schwindender zeitlicher Ressourcen und fortschreitender Informationstechnologie so macht, von ChatGPT übertragen zu lassen. Von dem in Sekundenschnelle hergezauberten Ergebnis war ich so fasziniert, dass ich gleich mit Prompts wie „im Ton einer Erzählung E.T.A. Hoffmanns“ (auch ein Autor, mit dem sich die frühe Bönnighausen befasst hat) oder „wie vom altersweisen Hermann Hesse“ fortfuhr und dabei kaum ein Ende finden konnte.
Einige der dabei erhaltenen, nur unwesentlich von mir redigierten Schreibprodukte sind im Folgenden angeführt. Natürlich ist Marion Bönnighausens Textauszug, der zuerst zu lesen sein wird, an Prägnanz und Aussagekraft durch keine der KI-Parodien zu übertreffen; aber einen gewissen Charme haben die literarisch anmutenden Texte wohl auch, und vielleicht wäre es eine Überlegung, wissenschaftliche Texte im poetischen Gewand einer breiten Leser:innenschaft schmackhaft zu machen.
Und wenn auch diese letztere Überlegung und das ganze Unternehmen nicht ganz ernst gemeint sind, hoffe ich jedenfalls, dass mir Marion Bönnighausen die Kostümparade, die ChatGPT im Folgenden mit ihrem Textauszug veranstaltet, nicht übelnimmt und vielleicht darüber lachen kann.
Herzlichen Glückwunsch und alles Gute zum Fünfundsechzigsten!
Thema: Marion Bönnighausen (o. J.), Lesen
Der Schwerpunktbereich Lesen umfasst die Kernbereiche Leseverstehen und Lesemotivation, die beide im deutschdidaktischen Kontext von der Lesedidaktik verantwortet werden. Beide Kernbereiche, die darauf abzielen, dass Schülerinnen und Schüler gut und flüssig lesen können und verstehen, was sie lesen, dass sie aber auch gern und viel lesen, greifen ineinander: Wer gern und viel liest, verbessert die Fähigkeit, flüssig zu lesen und Texte zu verstehen; flüssig lesen zu können und zu verstehen, was man liest, ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass man gern liest. Eine Förderung im Bereich Lesen meint also auch immer beides: die Anregung, mehr zu lesen, und die gezielte Unterstützung im Leseverstehen. Um gezielt und erfolgreich und das heißt systematisch Leseförderung zu betreiben, gilt es, Leseförderung als Gesamtkonzept zu sehen, das sich in zwei Kernbereiche aufteilt: Leseverstehen und Lesemotivation. Diese wirken zusammen, unterscheiden sich aber durch unterschiedliche Zielsetzungen und Fördermaßnahmen (Bönnighausen 2010; Bönnighausen/Winter 2012, 2019). Um Leseverstehen und Lesemotivation erfolgreich und damit nachhaltig fördern zu können, ist ein umfassendes Verständnis von Leseförderung als Gesamtkonzept erforderlich. Die konkrete Förderung selbst jedoch erfolgt strikt getrennt voneinander, denn die jeweiligen Förderziele erfordern aufgrund ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung unterschiedliche Maßnahmen und Methoden, die sich als Bausteine den einzelnen Kernbereichen zuordnen lassen [...].
Bönnighausen, Marion (o. J.): Lesen. In: Anna Ulrike Franken & Eva Pertzel (Hg.): 12 Perspektiven auf den Deutschunterricht. Wissenswertes für Deutschlehrkräfte. S. 90-125, hier S. 90.DOI: https://www.schulentwicklung.nrw.de/cms/upload/jambus/Handreichung/Jambus_12_Perspektiven.pdf
Literarische Variationen
Variation 1: Ein Essay Thomas Manns
Man muss das Lesen als ein feinsinniges Gebilde betrachten, das zweierlei Kernbereiche in sich birgt: zum einen das Leseverstehen, welches das Erfassen und Durchdringen des Textes zum Ziel hat, und zum anderen die Lesemotivation, die innere Bereitschaft, sich dem Geschriebenen in umfassender Weise zu nähern. Beide Sphären stehen in engem Wechselspiel zueinander, denn wer sich mit Freude dem Lesen hingibt, wird, fast unvermeidlich, seine Fähigkeit vertiefen, flüssig und sicher zu lesen und die Essenz eines Textes zu erfassen. So sind es die Lesefreudigen, die durch häufige Übung in die Sphäre des sicheren Leseverständnisses eintreten, und es ist eben dieses Vermögen, das dem Wunsch, mehr zu lesen, weiter Vorschub leistet.
Das Bemühen um Leseförderung erfordert daher stets einen doppelten Ansatz: Einerseits bedarf es der Anregung, sich vermehrt in die Welt der Bücher und Texte zu begeben, andererseits braucht es eine gezielte Anleitung im Verstehen und Deuten des Gelesenen. Doch eine wahre, also systematische Förderung des Lesens verlangt, dass man sie als umfassendes Gesamtkonzept begreift, in welchem die Bereiche Leseverstehen und Lesemotivation ineinandergreifen, ohne jedoch ihre je besonderen Ziele und Methoden zu vernachlässigen.
In diesem Sinne bleibt die Förderung selbst in einer klugen Trennung: Für die Entwicklung des Leseverstehens bedarf es gesonderter Übungen, welche die kognitiven Prozesse des sinnentnehmenden Lesens unterstützen. Die Lesemotivation hingegen verlangt nach anderen Zugängen, nämlich solchen, die das Interesse am Text wecken, die Leselust entfachen und das Bedürfnis zum eigenständigen Erkunden des Geschriebenen stimulieren. Nur durch ein derart tiefes Verständnis des Lesens als eines umfassenden Konzepts kann eine Förderung gelingen, die nachwirkt und den Menschen, dem sie dient, in seinem Innersten erreicht.
Variation 2: Im Erzähltons E.T.A. Hoffmanns
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Stellt euch vor, ihr trätet ein in das geheimnisvolle Reich der Bücher, jene zauberhafte Welt aus Worten, die uns mal in düstere, mal in heitere Weiten entführt. Zwei mächtige Kräfte lenken hier das Schicksal jedes wahren Lesers: das Leseverstehen und die Lesemotivation. Das Leseverstehen gleicht dem Schlüsseldienst, der uns Tore zu Welten aufschließt, deren Wesen sich nur denjenigen enthüllt, die die Kunst des tiefen Erfassens und Deutens erlernen. Die Lesemotivation aber, diese sanfte Muse, führt uns an die Schwelle jener Tore – voller Neugier, voller Wagemut, und sie ist es, die uns kühnlich ans Tor klopfen und Eintritt begehren heißt. So unzertrennlich sind diese beiden Kräfte, dass man sie, wie es bei innigen Freunden oft der Fall ist, kaum als getrennte Wesenheiten betrachten mag. Denn wer häufig und gern liest, gewinnt an Leichtigkeit und Gewandtheit im Lesen, und wer die Kunst des Lesens beherrscht, dem wird der Text zum nahen Vertrauten, dem er sich mit Hingabe zuwendet.
So ist wahre Leseförderung eine zauberhafte, aber nicht minder ernste Pflicht, die das Herz und den Verstand anspricht: Sie will sowohl das Verstehen als auch die Lust am Lesen wecken. Doch, um dies zu erreichen, darf man nicht willkürlich handeln; nein, vielmehr gilt es, das Lesen als ein großes, kunstvoll gewobenes Gewand zu begreifen, dessen Fäden sorgsam geknüpft und auseinandergehalten sein wollen. Das Leseverstehen erfordert jene kunstsinnigen Mittel und fein ausgearbeiteten Techniken, die den Geist schärfen und das Verständnis erhellen, während die Lesemotivation durch ein anderes Wirken entzündet wird – das Wirken der Fantasie, das Locken und Ziehen des Herzens, das uns veranlasst, voller Begeisterung und Eifer ein Buch zu ergreifen.
So mag die Leseförderung erscheinen wie das Werk eines geduldigen Meisters, der weiß, dass beides, Verstehen und Freude, getrennt gepflegt werden muss, damit sie letztlich vereint zum Guten wirken und im Geiste des Lesenden die wundersamsten Blüten treiben.
Variation 3: Im Stil des altersweisen Hermann Hesse
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Es war einmal ein Lehrer, ein geduldiger Mann, der das Lesen als eines der höchsten Güter betrachtete, als ein Tor zu den tiefsten Rätseln des Geistes. Für ihn bestand das wahre Lesen aus zwei ineinanderfließenden Strömen, die, wenn sie zusammenflossen, eine Art inneres Licht im Leser entzündeten: Leseverstehen und Lesemotivation. Das Leseverstehen war das Vermögen, den Geist des Textes zu erfassen, seine Bilder und Gedankenwelten in sich aufzunehmen, bis sie selbst zu fließen begannen. Die Lesemotivation hingegen war eine Art stilles Feuer, eine Neigung des Herzens, sich immer wieder, aus eigenem Drang, dem Buch und seiner Weisheit zu nähern.
Der Lehrer erkannte bald, dass sich diese beiden Kräfte nicht voneinander trennen ließen, ohne dass der Sinn des Lesens selbst verloren ging. Denn ohne das Verstehen blieb das Lesen leer, und ohne die Motivation, die innere Neugier, blieb das Verstehen bloße Theorie. Er beschloss, das Lesen als ein Ganzes zu lehren, in dem beide Kräfte vereint wirken sollten – die Strenge des Verstehens und die Sanftmut der Neigung.
Doch bald zeigte sich, dass der Weg schwieriger war, als er erwartet hatte. Die Schüler, die sich im Verstehen übten, neigten dazu, den Text zu zergliedern und zu analysieren, bis er ihnen fast zu einem Gegenstand geworden war, den man messen und wägen konnte. Jene aber, die voller Freude lasen, die das Buch als einen Gefährten betrachteten und sich darin verloren, blieben oft blind für seine tiefere Bedeutung. So schien es, als müssten die beiden Ströme doch in getrennten Bahnen fließen, als könnten Leseverstehen und Lesemotivation sich nur mit Mühe begegnen.
Doch als der Lehrer älter und weiser wurde, erkannte er, dass es nicht seine Aufgabe war, diese beiden Kräfte ganz zu vereinen. Seine Aufgabe war es vielmehr, den Schülern die Wege zu zeigen, sie ihnen beide zugänglich zu machen – das klare Licht des Verstehens und das warme Feuer der Neugier. Der eine Schüler würde sich eines Tages tiefer im Verstehen verwurzeln, der andere in der stillen Freude des Lesens – und jeder würde dabei seinen eigenen Weg finden.
Und so ließ der Lehrer seine Schüler ziehen, dem Lesen auf beiden Pfaden zu begegnen, und lernte, dass das Lesen nicht einem fertig ausgeglühten Eisen glich, sondern im steten Werden und Wachsen im Menschen selbst wob und wirkte.
Variation 4: Als Shakespeare-Sonett
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On Reading’s Twin Delight
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To read with joy, yet comprehend not clear,
Is like to eat, but know not flavor’s grace.
And though the words may fall upon the ear,
The sense lies hid, a shadowed, distant place.
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Yet, grasping knowledge cold without delight,
Brings but a barren field, devoid of bloom.
For joy’s the torch that turns the dark to light,
And fills the written lines with living room.
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Thus must we nurture both: the mind, the heart,
To grow in balanced steps of wisdom's way.
For where one gift alone doth play its part,
The other fades, and reading goes astray.
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Two pillars, then, in steady union rise:
To know and love – these twin paths make us wise.
Anmerkung: Es ist auffallend, wie viel sicherer sich ChatGPT im Englischen bewegt, wenn es um Lyrik geht. Die Ergebnisse zu Prompts wie „Im Tone Eichendorffs / Bachmanns / eines Trakl- oder eines Barocksonetts“ erschienen mir alle nicht festschriftwürdig. Entsprechend habe ich in die Variation 6 am entschiedensten eingegriffen.
Variation 5: Als sokratischer Dialog
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​Ein öffentlicher Platz in Athen. Sokrates spricht mit seinem jungen Schüler Menon über die Kunst des Lesens.
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SOKRATES: Sage mir, Menon, was bedeutet es deiner Meinung nach, gut lesen zu können?
MENON: Oh Sokrates, gut lesen zu können bedeutet, den Text flüssig zu lesen und auch zu verstehen, was darin steht.
SOKRATES: Sehr gut, mein junger Freund. Doch wenn einer liest und die Worte nur laut ausspricht, ohne ihren Sinn zu begreifen, könnte man
dann sagen, er lese gut?
MENON: Nein, Sokrates, das wäre gewiss nicht genug.
SOKRATES: Und wie ist es, wenn er die Worte wohl versteht, doch das Lesen selbst ihm so schwer fällt, dass er es kaum genießen kann?
MENON: Auch das wäre unvollständig, Sokrates. Es scheint, dass beides nötig ist: flüssig zu lesen und den Inhalt zu verstehen.
SOKRATES: Ich sehe, du beginnst den Weg zu erkennen, trefflicher Menon. Doch lass mich noch weiter fragen: Glaubst du, einer, der nicht
gern liest, könnte gut und flüssig lesen lernen?
MENON: Das dünkt mich schwierig, o Sokrates. Wer das Lesen nicht liebt, wird wohl kaum danach streben, darin besser zu werden.
SOKRATES: Ganz recht, mein Menon! Nun stelle dir vor, wir wollten alle Menschen lehren, gut zu lesen. Wäre es nicht klug, sie sowohl im
Verstehen der Worte wie auch in der Freude am Lesen zu unterweisen?
MENON: Ja, das wäre vernünftig, Sokrates. Denn wie du sagst, das eine führt zum anderen.
SOKRATES: Doch höre, mein Freund, gibt es nicht unter den Lehrern und Philosophen solche, die glauben, es reiche aus, nur das Verstehen
zu lehren, und das Vergnügen werde sich von selbst einstellen? Oder andere, die meinen, wenn die Schüler Freude am Lesen haben, werde das Verstehen ganz von allein kommen?
MENON: Wahrlich, das hört man oft. Doch so scheint mir nun, dass jedes ohne das andere unvollständig bleiben muss, wie ein Werfer ohne
Diskus nichts wirkt und dieser ohne jenen am Boden bleibt.
SOKRATES: Ganz recht, und wie schön im Bild gesprochen, o Menon! So also erkennen wir: Wer gut lesen lernen will, bedarf eines
vollständigen Unterrichts, eines, der das Verstehen und die Freude am Lesen gleichermaßen umfasst. Denn das Verstehen ist die Nahrung, die Freude aber das Feuer, das uns zum Lesen antreibt. Und nur durch beides werden die Schüler wahrhaftig lesen lernen, und das mit Verstand und Freude.
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Variation 6: Als Szene einer Wagner-Oper
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Eine hohe, geräumige Unterrichtshalle in einem mythischen Reich der Bildung,
durchwirkt von zierlichen, hoch aufstrebenden Säulen. Ätherisches Licht fällt durch
schmale Fenster, eine eigentümliche, sakrale Atmosphäre herrscht. An einem Katheder steht die
Große Lehrmeisterin (Alt), gravitätisch und von erhabener Statur, ihre Stimme kraftvoll
und voll würdigem Ernst.
Ihr gegenüber, horchend, wissensdurstig und ein wenig befangen, die Schülerin (Sopran),
jugendlich und mit heller Tongebung. Zwischen ihnen schweben unsichtbar die Geister des Lesens.
DIE LEHRMEISTERIN
erhebt die Hände zum Himmel. Rezitativisch, dunkel und voll wissender Schwere.
Leseverstehen, Leselust! – Zwei ewige Kräfte!
Getrennt sie leben, getrennt sie wirken –
doch ineinander sind sie gebunden,
in unlösbarem Bande vermählt,
wie das Feuer dem Holz, wie der Sturm der See!
Wer lesen will und das Wort nicht begehrt,
versteht nur Schatten, starr und kalt.
Wer Worte liebt, doch ihren Sinn nicht ersieht,
bleibt blind, ein taumelnder Träumer der Trübe!
DIE SCHÜLERIN
tritt vor, Rat heischend, sehnsuchtsvoll
O Lehrmeisterin, wissend um Wege zur Weisheit,
sage mir, wie fass‘ ich beides zugleich?
Das Wissen erwerben, die Bücher begehren,
Verstand und Genuss gemeinsam zu mehren –
Ohn‘ Zögern und Zagen mich danach verzehren?
Wie kann mich Wissen entflammen,
wo gezwungen, befangen,
ich nur halbherzig lese,
nicht gut motiviert?
DIE LEHRMEISTERIN
verlässt den Katheder und schreitet allmählich zur Mitte des Bühnenrands. Gewichtig
und erhaben; gegen Schluss mit wachsender Klarheit und visionärer Strahlkraft.
Lesen lehrt die Seele zu schreiten,
doch ohne Verlangen wird es nie frei!
Leseverstehn ohne Lust ist ein Wahn,
und Lust sonder Sinn ein tumber Trieb,
von wabernden Winden verworfen.
Siehe, ein großes System ward ersonnen,
zum Fördern des Feuers, zum Kühnen des Kopfes.
Zwei Säulen ihn tragen, den Kern des Konzeptes,
separat muss man lehren
Gemüt und Gehirn!
DER CHOR DER GEISTER
setzt ein, als Widerhall aus den Säulen. Zunächst säuselnd, dann immer strahlender
bis zum Triumph.
Zwei Wege – ein Pfad – Verstehen und Lust!
Getrennt und gebunden, gewunden im Wandeln,
Wonne und Pflicht, Wille und Wahn!
Lehret die Lehrer, kündet den Kindern:
Lohendes Lesen erkiest uns die Kunst!
Die Musik schwillt an, bis zuletzt ein donnerndes Orchesterfinale erklingt und
die Halle in gleißendem Licht erstrahlt. Der Vorhang fällt schnell.
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