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Peter Ellenbruch
Der Kapitän und der blinde Passagier – oder: ein direkter Weg in die Filmanalyse

Film wird gemeinhin als audio-visuelles Medium wahrgenommen und auch als solches bezeichnet – doch um die heutige Ausformung des Sprechfilms, der überwiegend durch die Verknüpfung von zu sehenden sprechenden Figuren und zu hörendem Dialog eine Eindeutigkeit seiner Bedeutung vorgaukelt, soll es hier nicht gehen.

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Vielmehr soll eine offenere audio-visuelle Verknüpfung von Film und Musik vergegenwärtigt werden, die es zu Zeiten des Stummfilms gab. Dabei ist Stummfilm selbstredend eine retrospektive Zuschreibung, denn für ein Publikum zwischen 1895 und ungefähr 1930 war es völlig normal, dass es zum Film keine zugehörige Tonspur gab. Es gehörte einfach zum Wesen von Film und Kino, dass Musik direkt im Saal dargeboten wurde (darüber hinaus auch manchmal Geräusche und/oder Stimmen der Kinoerzähler).

 

Nun ergibt sich bei dieser Konstellation von Film und (nicht dazu festgelegter) Musik der zunächst kurios erscheinende Effekt, dass die Musik unsere Wahrnehmung des Films nicht nur beeinflussen, sondern mit Blick auf die Interpretation eines Werks gar (stark) verändern kann. Hier soll es in einem kleinen Selbsttest darum gehen, einige Wirkungsspektren solcher Verknüpfungen zu erleben, um sich gewahr zu werden, dass ein Nachdenken über das Zusammenwirken von Auge und Ohr im Kino in eine umfassende Reflexion des audio-visuellen Mediums führen kann.

 

Ausgewählt wurde dazu eine kleine Sequenz aus THE YANKEE CLIPPER (1927, Rupert Julian), in welcher der Kapitän des titelgebenden Schiffs auf einen blinden Passagier trifft. Dazu gibt es drei verschiedene musikalische Begleitungen, auf die es sich nun einzulassen gilt:

(die Musikausschnitte stammen alle aus „The Planets“ von Gustav Holst, Aufnahme: 1926, Gustav Holst & LSO)

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Es ist zu bemerken, wie sich der Blick auf auf Handlungsstrukturen und Figurenkonstellation sowie Figurencharakterisierungen bzw. -motivationen verschieben kann – doch was bewirkt die Unterschiede in dieser audio-visuellen ästhetischen Erfahrung?

Natürlich hat das alles mit „Emotionen“ zu tun, genauso mit „Erzählung“ bzw. „Narration“ – doch zuallererst geht es um Komposition, sowohl auf der filmischen als auch auf der musikalischen Seite. Die spezifischen Bildkompositionen mit all ihren Gestaltungen innerhalb der filmischen Rahmung (von den Figurenregungen über die Perspektivierung bis zur Montage von Raum und Zeit) verweben sich mit den Melodien und Klangfarben in den Schichten der Arrangements. Und man könnte sagen: Wie auf magische Weise ergeben sich Bezüge von einzelnen Bildelementen wie Bewegungen und Blicken im Filmbild mit Bewegungen und Lautstärken innerhalb der Musik. Man beginnt, eingenommen vom audio-visuellen Erlebnis, zu interpretieren, baut sich intuitiv einen Zusammenhang von Bild und Klang. Das Erstaunliche hierbei ist: Es scheint dabei kein „richtig“ oder „falsch“ zu geben – was auch immer man audio-visuell zusammenbringt, gestaltet eine neue ästhetische Erfahrung, die ihren eigenen „Sinn“ ergibt.

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Und wenn man folgende Beobachtung von Siegfried Kracauer hinzunimmt, kann man bemerken, dass eventuelle Vorstellungen von „passend“ oder „unpassend“ zunächst eher der eigenen Sozialisation und ggf. einer bildungsbürgerlichen Vorstellung von Film und Musik (als „Kunst“) entspringen:

„Ich entsinne mich eines anderen Klavierspielers, der in den Zeiten des stummen Films, damals, als es noch nicht die Filmorchester gab und niemand daran dachte, kunstvolle musikalische Illustrationen zusammenzustellen, in einem kleinen Kino vom frühen Nachmittag bis in die Nacht hinein aufspielte. […] Da er von dem Platz aus, an dem der Raumnot wegen das Instrument stand, die Leinwand nicht sehen konnte, spielte er, was ihm durch den Kopf ging: Militärmärsche mit Variationen, empfindsame Lieder und glitzernde Passagen, die er je nach Bedarf improvisierte. Wenn ein tragisches Ereignis eintrat, ertönte oft lustige Tanzmusik, während Verlobungsaussichten immer wieder durch düstere Klänge gefährdet wurden. Schon längst paßt die Kinomusik haargenau zu den einzelnen Szenen des Films, aber ich habe nie wieder eine vernommen, die besser zu ihnen gepaßt hätte als jene, die sich gar nicht nach dem Film richtete.“

(s.: Siegfried Kracauer: Der Klavierspieler. In: Straßen in Berlin und anderswo. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009, S. 151.)

 

Die Verbindung von Film und Musik kann demnach extrem variabel sein – doch sie regt letztlich immer zur Reflexion an. Und je nach eigenem Gusto kann man sich nun stärker der filmischen oder der musikalischen Seite im eigenen Reflexionsdenken widmen.       

Bei einer analytischen Hinwendung zur filmischen Ebene ist aber festzustellen, dass man sofort bei einer genaueren Betrachtung der Bildstrukturen ist, da man sich fragt, welche Bewegung, welcher Blick einer Figur, welches Rhythmus-Element in der Montage (bzw. welche Kombination aus all dem) sich letztlich mit der Musik zu der wahrgenommenen Wirkungsweise verknüpft hat.

Und gleichzeitig wird klar: Wortbedeutungen sind bei dieser Filmform kaum von Belang – es geht hauptsächlich um rhythmische Phänomene.

So führt diese Art der audio-visuellen Erfahrung (mit all ihren zum Staunen anregenden Variationen) direkt zum Kern einer tatsächlich medienspezifischen Filmanalyse, da man sich nicht um Plot-Strukturen oder gar Dialoge kümmern muss, vielmehr sofort im Zentrum der Bildwirkungen von Film und Kino ankommen kann.

Letztlich stößt man so auf die basale Einsicht, die auch Alain Bergala in seiner kleinen filmdidaktischen Schrift „Kino als Kunst“ formuliert: 

„Der sinnliche Zugang [zu einem Film] kann den Lehrern ihre Hemmungen nehmen: Er erfordert keine andere Fähigkeit als Aufmerksamkeit für alles, was tatsächlich auf der Leinwand und der Tonspur vorhanden ist und worüber man sich mit den Schülern zunächst einmal von gleich zu gleich austauschen kann. Diese erste Etappe, mit der jede Annäherung an einen Film beginnen sollte, wird selbst an den Universitäten manchmal von vorschnell dechiffrierenden und interpretierenden ‚Lesern‘ übersprungen.“

(s.: Alain Bergala: Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo. Marburg: Schüren 2006, S.54.)

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In diesem Sinne braucht man zunächst kaum etwas anderes als die eigene Neugierde, um die Welt des Kinos aller filmhistorischen Epochen (auch analytisch) für sich zu entdecken – man muss sich nur trauen, genau hinzuschauen.   

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